Ein aktuelles Sondergutachten der Monopolkommission, das FOCUS Online exklusiv vorliegt, zeigt eine deutliche strukturelle Verschiebung im deutschen Lebensmitteleinzelhandel. Wie FOCUS Online berichtet, kontrollieren die Handelskonzerne Edeka, Rewe, Aldi und Lidl inzwischen rund 85 Prozent des Marktes – eine Konzentration, die weitreichende Folgen für Wettbewerb, Preisbildung und die Landwirtschaft hat.
Nach Jahren intensiver Fusionen und Übernahmen sieht die Monopolkommission einen kritischen Wendepunkt erreicht. Ihr Vorsitzender, Tomaso Duso, erklärte gegenüber FOCUS Online, die Marktkonzentration sei „bereits sehr weit fortgeschritten“. Entscheidend sei nun, die verbleibenden Restwettbewerbsstrukturen zu sichern, da die vier größten Akteure den Markt voraussichtlich weiterhin dominieren werden. Eine zentrale Wegmarke auf diesem Weg war die umstrittene Ministererlaubnis für die Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch Edeka im Jahr 2016 – eine Entscheidung, die das Gutachten als „erheblich wettbewerbsschädigend“ einstuft.
Preiswirkungen und wachsende Vertikalisierung des Handels
Die Folgen dieser Verschiebung zeigen sich besonders deutlich in der Preisentwicklung. Deutschland, lange als „Discount-Land“ wahrgenommen, verzeichnet seit 2011 den stärksten Anstieg der Lebensmittelpreise in der gesamten EU. Ein wiederkehrendes Muster prägt die Entwicklung: Während Preiserhöhungen schnell weitergegeben werden, kommen Preissenkungen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern nur verzögert oder gar nicht an. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in der Milch- und Fleischwirtschaft, wo Handelspreise deutlich stärker steigen als Erzeugerpreise – und hoch bleiben, selbst wenn sich die Lage auf vorgelagerten Stufen entspannt. Entsprechend stiegen im vergangenen Jahrzehnt die Gewinnmargen sowohl großer Hersteller als auch der Handelskonzerne, während landwirtschaftliche Betriebe nur geringe Vorteile verbuchen konnten.
Eine zusätzliche Dynamik entsteht durch die zunehmende Vertikalisierung des Handels. Vor allem die Schwarz-Gruppe und Edeka bauen ihre eigenen Produktions- und Verarbeitungsstrukturen massiv aus und rücken damit immer näher an die Herstellerebene heran. Für die Monopolkommission ist dies hoch problematisch, da dem Handel dadurch erhebliche zusätzliche Verhandlungsmacht gegenüber Produzenten zufließt. Parallel dazu reagieren Hersteller mit eigenen Zusammenschlüssen – ein Prozess, den Duso als „Spiraleffekt“ beschreibt: Konzentration im Handel führt zu Konzentration in der Industrie, die wiederum neue Integrationsschritte des Handels auslöst. Diese Entwicklung darf sich aus Sicht der Kommission keinesfalls fortsetzen.
Besonders deutlich werden die Risiken dieser Entwicklung in fünf zentralen Branchen: Milch, Fleisch, Zucker, Getreide und Kartoffelprodukte. In der Milchwirtschaft vereinen bereits die sechs größten Anbieter einen erheblichen Teil des Marktes, während Preissenkungen auf Erzeugerseite kaum an Verbraucher weitergegeben werden. Die geplante Fusion von DMK und Arla, die zur größten Molkereigenossenschaft Europas führen würde, bewertet die Monopolkommission daher kritisch. Duso betont, dass „funktionierender Wettbewerb kein Argument für zusätzliche Konzentration sein darf“ und warnt, dass Milcherzeuger von einem solchen Zusammenschluss nicht automatisch profitieren würden.
Schwache Position der Landwirtschaft – Forderung nach regulatorischem Eingreifen
Noch weiter fortgeschritten ist die Marktmacht in der Fleischwirtschaft, wo wenige große Unternehmen wie die Premium Food Group und Westfleisch dominieren und die Handelskonzerne zudem eigene Schlacht- und Verarbeitungsbetriebe betreiben. Ähnlich konzentriert zeigt sich die Zuckerindustrie, die im Wesentlichen von vier Unternehmen kontrolliert wird. Auch in der Getreide- und Kartoffelverarbeitung prägen wenige Anbieter den Markt, während Schwankungen am Weltmarkt kaum an nachgelagerte Stufen weitergegeben werden und der Marktzutritt für neue Wettbewerber erschwert ist.
Die Analyse der Monopolkommission zeigt zudem, dass Kostenänderungen entlang der Lieferkette nur unvollständig weitergegeben werden. Hersteller reichen Kosten im Schnitt lediglich zu 62 Prozent weiter, der Handel zu etwa 76 Prozent. Beide Werte liegen deutlich unter dem, was in einem funktionierenden Wettbewerb zu erwarten wäre und gelten als klarer Hinweis auf vorhandene Preissetzungsspielräume.
Besonders stark belastet wird die Landwirtschaft. Viele kleinere Betriebe scheuen Beschwerden über unfaire Geschäftspraktiken aus Angst vor Auslistungen oder anderen wirtschaftlichen Nachteilen. Duso fordert deshalb eine deutlich effektivere Missbrauchsaufsicht. Bundeskartellamt und Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung müssten stärker auf Lieferbeziehungen achten, in denen kleinteilige Strukturen dominieren, da hier der „Angstfaktor“ besonders hoch sei.
Auch politische Interventionen müssten aus Sicht der Kommission gezielt ansetzen. Eine Entlastung der Landwirtschaft könne am wirkungsvollsten über die Senkung von Produktionskosten erreicht werden – etwa durch Bürokratieabbau, die Förderung effizienter Technologien wie Precision Farming oder leistungsorientierte Subventionen. Mindestpreise lehnt die Kommission dagegen klar ab, da sie Inflation und Importe anheizen würden.
Das Gutachten erhebt am Ende eine unmissverständliche Warnung: Ohne entschlossenes Handeln der Politik wird die Konzentration im deutschen Lebensmittelsektor weiter voranschreiten – mit negativen Folgen für Wettbewerb, Verbraucher und insbesondere für landwirtschaftliche Betriebe. Strengere Fusionskontrollen entlang der gesamten Lieferkette, ein Stopp der zunehmenden Vertikalisierung durch den Handel sowie die systematische Überprüfung früherer Entscheidungen, darunter auch die Übernahme von Kaiser’s Tengelmann, sollen künftig verhindern, dass Fehlentwicklungen weiter zementiert werden.
Quelle: FOCUS Online: „85 Prozent: Warum Macht von Aldi, Edeka, Rewe und Lidl unsere Geldbörse bedroht“